Abstract
Kapitel Im Sammelband "Obdach- und Wohnungslosigkeit in pandemischen Zeiten
Interdisziplinäre Perspektiven" herausgegeben von Frank Sowa, Marco Heinrich und Frieda Heinzelmann.
Zusammenfassung des Kapitels:
Die Corona-Pandemie, bei der sich die Eindämmungsmaßnahmen auf die Selbstisolierung und das Zuhause bleiben konzentriert haben, hat auf eindringliche und schmerzhafte Weise verdeutlicht, welcher Stellenwert die Wohnung in unserer Gesellschaft gewonnen hat (Schneider 2020a; Schneider 2020c; Schneider 2021). Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Kampagnen, die sich um den viralen Hashtag #wirbleibenzuhause herum formten, der von Politik, Gesellschaft und Prominenten aufgegriffen wurde und der soziale Verantwortung und Nächstenliebe an das Zuhause-bleiben knüpfte. Wohnungen wurden zum sicheren, manchmal auch einschränkenden und gewalttätigen, aber dennoch unverzichtbaren Zufluchtsort, hinter dem wir uns selbst isolieren, uns einschließen und uns und andere schützen können. Ein zuvor passiver Akt, das Verschanzen hinter den eigenen vier Wänden, wurde zu einer heroischen Tat. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum hingegen bekam eine unverantwortliche und egoistische Gefährdungshandlung. In ihren Bemühungen, die Auswirkungen dieser Pandemie zu mildern, bedienen sich deutsche Politiker:innen der Sprache der Solidarität, der sozialen Verantwortung und des Gemeinwohls. Sie betonen, dass Deutschland als Demokratie diese Pandemie nur gemeinsam besiegen kann. Doch während Bemühungen zur Begrenzung der Auswirkungen auf die Wirtschaft die unterschiedlichen Berufe und Lebensumstände der Menschen berücksichtigen, stützen sich die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf Selbstisolierung in Wohnungen und können somit nicht von allen umgesetzt werden. Die Tatsache, dass Wohnende mit mietrechtlich abgesichertem Wohnraum oder mit Wohneigentum die Norm sind, wird dadurch zur unumstößlichen und ausgrenzenden Tatsache. Dass die Lebensumstände all jener, die nicht nach dem Muster einer abgesicherten Miet- oder Eigentumswohnung wohnen, erst nach einiger Zeit von Politik und Praxis aufgegriffen wurden, zeigt zum einen, wie normativ unsere Vorstellung des Wohnens in Wohnungen ist und löst zum anderen bei wohnungslosen Menschen Gefühle der Ausgrenzung und des Nicht-Zugehörens aus (siehe Schneider 2020a).
Um wohnungslose Menschen zu schützen, forderten deutsche Organisationen und Aktivist:innen Schutzmaßnahmen, die über Notunterkünfte hinausgehen und feste Wohnräume, Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch Sozialarbeiter:innen, Verpflegung, kontrollierte Medikamentenabgabe sowie medizinische Hilfe umfassen. Doch eine kohärente Strategie gab es nicht. Nichtsdestotrotz haben sich deutsche Kommunen, Städte, Sozialwesen, freie Träger, NGOs und zahlreiche Einzelpersonen unermüdlich dafür eingesetzt, dass Menschen ohne Wohnung sich und andere schützen können und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Doch all diese Maßnahmen waren Krisenmaßnahmen, keine langfristigen Lösungen und wurden, sobald Ansteckungszahlen sanken, reduziert oder ganz eingestellt. Was dabei nicht bedacht wird: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben für viele wohnungslose Menschen sowohl entsetzliche Härten als auch existenzielle Krisen mit sich gebracht. Gleichzeitig haben sie aber auch Chancen eröffnet, durch die wohnungslose Menschen Wege in eine andere Zukunft sahen und manchmal auch erlebten; eine Zukunft, die der gemeinsamen Verwundbarkeit, der sozialen Teilhabe und einer Politik der Fürsorge mehr Aufmerksamkeit schenkt; eine, die aufgrund des gesamtpolitischen Rückruderns nun wieder in unerreichbare Ferne rückt.
In diesem Beitrag zeige ich anhand des Fallbeispiels Leipzig die Situation wohnungsloser Menschen auf, erläutere, welche Auswirkungen die Corona-Maßnahmen und die gesamtgesellschaftlichen Prioritäten auf diese Menschen hatten und haben, welche Fragen sich hieraus in Bezug auf grundlegende Menschenrechte und staatliche Schutzversprechen ergeben und welche Konsequenzen wir hieraus perspektivisch ziehen können und müssen. Meine Daten gewann ich in einer ethnografischen Langzeitstudie zwischen Oktober 2018 und Februar 2022. Basierend auf dem Faktum, das Grundrechte auf Privatsphäre und Intimität rechtlich an Wohnraum geknüpft sind, erfragte ich: Was passiert, wenn man keine eigene Wohnung hat, keine Mauern, die die Bedingungen schaffen, die es erlauben, Intimität zu leben? Wie können wohnungslose Menschen Beziehungen leben, Eltern sein, Privatsphäre, Intimität und Schutz genießen? In Leipzig habe ich offene, qualitative Interviews mit über 300 wohnungslosen Menschen geführt, 116 von Ihnen habe ich mehrmals interviewt (zwischen zwei- und fünfmal mit mindestens sechs Monaten Abstand zwischen Interviews), um zu sehen, wie sich ihre Lebenssituation entwickelt (Ellis 2017; Kvale 1996; Rubin and Rubin 2004; Skinner 2012). Zudem führte ich tägliche teilnehmende Beobachtungen unter verschiedenen Gruppen wohnungsloser Menschen durch. 27 obdach- und wohnungslose Menschen habe ich zudem ethnografisch durch ihren Alltag begleitet (Kusenbach 2003). Ich habe somit während der ersten zwei Pandemie Jahre durchgehend geforscht. Zudem arbeitete ich heraus, wie der rechtliche und politische Rahmen umgesetzt wird, mit welche Möglichkeiten und Barrieren sich wohnungslose Menschen konfrontiert sehen, wenn sie versuchen, ihre Rechte einzufordern und kollaborierte eng mit Dienstleistern des Hilfesystems in Leipzig.
Zusammenfassung des Buches:
Wie können Menschen zu Hause bleiben, die kein Zuhause haben? Obdach- und wohnungslose Menschen waren mit am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffen, wurden aber lange von der Politik übersehen. Apelle wie unter dem Hashtag StayAtHome wirkten ihnen gegenüber geradezu zynisch. Auch in der Forschungslandschaft fand die Situation dieser Menschen bisher wenig Berücksichtigung. Die Beiträger*innen nehmen sich dieser Lücke an und bündeln den derzeitigen Forschungsstand zum sozialen Phänomen der Obdach- und Wohnungslosigkeit sowie daran angrenzende Themengebiete in pandemischen Zeiten. Ein Blick zurück lohnt sich, um aus dieser Zeit zu lernen und für künftige Pandemien besser gewappnet zu sein.
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Chapter in the edited collection entitled "Homelessness and houselessness in pandemic times
Interdisciplinary Perspectives" edited by Frank Sowa, Marco Heinrich and Frieda Heinzelmann.
Summary of the book:
How can people who have no home stay at home? Homeless people have been among the hardest hit by the COVID-19 pandemic, but have long been overlooked by politicians. Appeals such as those under the hashtag StayAtHome seemed downright cynical towards them. The situation of these people has also received little attention in the research landscape. The contributors address this gap and bring together the current state of research on the social phenomenon of homelessness and related topics in pandemic times. It is worth taking a look back in order to learn from this time and be better prepared for future pandemics.
Interdisziplinäre Perspektiven" herausgegeben von Frank Sowa, Marco Heinrich und Frieda Heinzelmann.
Zusammenfassung des Kapitels:
Die Corona-Pandemie, bei der sich die Eindämmungsmaßnahmen auf die Selbstisolierung und das Zuhause bleiben konzentriert haben, hat auf eindringliche und schmerzhafte Weise verdeutlicht, welcher Stellenwert die Wohnung in unserer Gesellschaft gewonnen hat (Schneider 2020a; Schneider 2020c; Schneider 2021). Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Kampagnen, die sich um den viralen Hashtag #wirbleibenzuhause herum formten, der von Politik, Gesellschaft und Prominenten aufgegriffen wurde und der soziale Verantwortung und Nächstenliebe an das Zuhause-bleiben knüpfte. Wohnungen wurden zum sicheren, manchmal auch einschränkenden und gewalttätigen, aber dennoch unverzichtbaren Zufluchtsort, hinter dem wir uns selbst isolieren, uns einschließen und uns und andere schützen können. Ein zuvor passiver Akt, das Verschanzen hinter den eigenen vier Wänden, wurde zu einer heroischen Tat. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum hingegen bekam eine unverantwortliche und egoistische Gefährdungshandlung. In ihren Bemühungen, die Auswirkungen dieser Pandemie zu mildern, bedienen sich deutsche Politiker:innen der Sprache der Solidarität, der sozialen Verantwortung und des Gemeinwohls. Sie betonen, dass Deutschland als Demokratie diese Pandemie nur gemeinsam besiegen kann. Doch während Bemühungen zur Begrenzung der Auswirkungen auf die Wirtschaft die unterschiedlichen Berufe und Lebensumstände der Menschen berücksichtigen, stützen sich die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf Selbstisolierung in Wohnungen und können somit nicht von allen umgesetzt werden. Die Tatsache, dass Wohnende mit mietrechtlich abgesichertem Wohnraum oder mit Wohneigentum die Norm sind, wird dadurch zur unumstößlichen und ausgrenzenden Tatsache. Dass die Lebensumstände all jener, die nicht nach dem Muster einer abgesicherten Miet- oder Eigentumswohnung wohnen, erst nach einiger Zeit von Politik und Praxis aufgegriffen wurden, zeigt zum einen, wie normativ unsere Vorstellung des Wohnens in Wohnungen ist und löst zum anderen bei wohnungslosen Menschen Gefühle der Ausgrenzung und des Nicht-Zugehörens aus (siehe Schneider 2020a).
Um wohnungslose Menschen zu schützen, forderten deutsche Organisationen und Aktivist:innen Schutzmaßnahmen, die über Notunterkünfte hinausgehen und feste Wohnräume, Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch Sozialarbeiter:innen, Verpflegung, kontrollierte Medikamentenabgabe sowie medizinische Hilfe umfassen. Doch eine kohärente Strategie gab es nicht. Nichtsdestotrotz haben sich deutsche Kommunen, Städte, Sozialwesen, freie Träger, NGOs und zahlreiche Einzelpersonen unermüdlich dafür eingesetzt, dass Menschen ohne Wohnung sich und andere schützen können und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Doch all diese Maßnahmen waren Krisenmaßnahmen, keine langfristigen Lösungen und wurden, sobald Ansteckungszahlen sanken, reduziert oder ganz eingestellt. Was dabei nicht bedacht wird: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben für viele wohnungslose Menschen sowohl entsetzliche Härten als auch existenzielle Krisen mit sich gebracht. Gleichzeitig haben sie aber auch Chancen eröffnet, durch die wohnungslose Menschen Wege in eine andere Zukunft sahen und manchmal auch erlebten; eine Zukunft, die der gemeinsamen Verwundbarkeit, der sozialen Teilhabe und einer Politik der Fürsorge mehr Aufmerksamkeit schenkt; eine, die aufgrund des gesamtpolitischen Rückruderns nun wieder in unerreichbare Ferne rückt.
In diesem Beitrag zeige ich anhand des Fallbeispiels Leipzig die Situation wohnungsloser Menschen auf, erläutere, welche Auswirkungen die Corona-Maßnahmen und die gesamtgesellschaftlichen Prioritäten auf diese Menschen hatten und haben, welche Fragen sich hieraus in Bezug auf grundlegende Menschenrechte und staatliche Schutzversprechen ergeben und welche Konsequenzen wir hieraus perspektivisch ziehen können und müssen. Meine Daten gewann ich in einer ethnografischen Langzeitstudie zwischen Oktober 2018 und Februar 2022. Basierend auf dem Faktum, das Grundrechte auf Privatsphäre und Intimität rechtlich an Wohnraum geknüpft sind, erfragte ich: Was passiert, wenn man keine eigene Wohnung hat, keine Mauern, die die Bedingungen schaffen, die es erlauben, Intimität zu leben? Wie können wohnungslose Menschen Beziehungen leben, Eltern sein, Privatsphäre, Intimität und Schutz genießen? In Leipzig habe ich offene, qualitative Interviews mit über 300 wohnungslosen Menschen geführt, 116 von Ihnen habe ich mehrmals interviewt (zwischen zwei- und fünfmal mit mindestens sechs Monaten Abstand zwischen Interviews), um zu sehen, wie sich ihre Lebenssituation entwickelt (Ellis 2017; Kvale 1996; Rubin and Rubin 2004; Skinner 2012). Zudem führte ich tägliche teilnehmende Beobachtungen unter verschiedenen Gruppen wohnungsloser Menschen durch. 27 obdach- und wohnungslose Menschen habe ich zudem ethnografisch durch ihren Alltag begleitet (Kusenbach 2003). Ich habe somit während der ersten zwei Pandemie Jahre durchgehend geforscht. Zudem arbeitete ich heraus, wie der rechtliche und politische Rahmen umgesetzt wird, mit welche Möglichkeiten und Barrieren sich wohnungslose Menschen konfrontiert sehen, wenn sie versuchen, ihre Rechte einzufordern und kollaborierte eng mit Dienstleistern des Hilfesystems in Leipzig.
Zusammenfassung des Buches:
Wie können Menschen zu Hause bleiben, die kein Zuhause haben? Obdach- und wohnungslose Menschen waren mit am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffen, wurden aber lange von der Politik übersehen. Apelle wie unter dem Hashtag StayAtHome wirkten ihnen gegenüber geradezu zynisch. Auch in der Forschungslandschaft fand die Situation dieser Menschen bisher wenig Berücksichtigung. Die Beiträger*innen nehmen sich dieser Lücke an und bündeln den derzeitigen Forschungsstand zum sozialen Phänomen der Obdach- und Wohnungslosigkeit sowie daran angrenzende Themengebiete in pandemischen Zeiten. Ein Blick zurück lohnt sich, um aus dieser Zeit zu lernen und für künftige Pandemien besser gewappnet zu sein.
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Chapter in the edited collection entitled "Homelessness and houselessness in pandemic times
Interdisciplinary Perspectives" edited by Frank Sowa, Marco Heinrich and Frieda Heinzelmann.
Summary of the book:
How can people who have no home stay at home? Homeless people have been among the hardest hit by the COVID-19 pandemic, but have long been overlooked by politicians. Appeals such as those under the hashtag StayAtHome seemed downright cynical towards them. The situation of these people has also received little attention in the research landscape. The contributors address this gap and bring together the current state of research on the social phenomenon of homelessness and related topics in pandemic times. It is worth taking a look back in order to learn from this time and be better prepared for future pandemics.
Translated title of the contribution | "People will survive this pandemic, but whether humanity will is a completely different question" : Basic rights, homelessness and corona measures in Germany |
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Original language | German |
Title of host publication | Obdach- und Wohnungslosigkeit in pandemischen Zeiten |
Subtitle of host publication | Interdisziplinäre Perspektiven |
Editors | Frank Sowa, Marco Heinrich, Frieda Heinzelmann |
Publisher | Transcript-Verlag |
Pages | 315-330 |
Number of pages | 16 |
ISBN (Print) | 9783837660609 |
DOIs | |
Publication status | Published - 9 Jul 2024 |
Publication series
Name | Gesellschaft der Unterschiede |
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Publisher | [transcript] |
Keywords
- homelessness
- pandemic
- intimacy
- basic rights
- houselessness